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Tourettesyndrom
Das Tourettesyndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch das Auftreten von Tics charakterisiert ist.
Benannt ist das Syndrom nach dem franz�sischen Arzt Georges Gilles de la Tourette, der die Symptomatik erstmals um 1885 auf wissenschaftlicher Basis beschrieb. Gilles de la Tourettes Arbeit geriet im Laufe der Zeit jedoch wieder in Vergessenheit, so dass in der Folge meist falsche Diagnosen gestellt wurden. Erst in den 1990ern trat die Krankheit in Deutschland wieder verst�rkt in das �ffentliche Interesse.
Symptome
Die verschiedenartigen Tics, die f�r das Tourettesyndrom typisch sind, treten h�ufig im Alter von ca. sieben Jahren zum ersten Mal auf und pr�gen sich meist bis ungef�hr zum 14. Lebensjahr voll aus. Eine Verst�rkung ist oft in der Pubert�t festzustellen, w�hrend bei 70% aller Betroffenen die Intensit�t der Tics zwischen dem 16. und 26. Lebensjahr wieder nachl�sst. Obwohl bei einigen Patienten die Auff�lligkeiten im Laufe der Jahre sogar wieder vollst�ndig verschwinden, muss die Mehrheit aber lebenslang versuchen, mit den Tics zurechtzukommen.
Einfache motorische Tics k�nnen sich als Augenblinzeln, Naser�mpfen oder Kopfwerfen manifestieren. Beispiele f�r einfache vokale Tics sind das Aussto�en von bedeutungslosen Lauten, Husten oder das Nachahmen von Tierger�uschen.
Unter die Kategorie der komplexen Tics fallen im motorischen Bereich das Grimassieren, das Imitieren anderer Leute (Echopraxie) oder auch selbstverletzende Handlungen. Komplexe vokale Tics sind das Wiederholen von W�rtern (Echolalie bzw. Palilalie) oder das als Koprolalie bekannte Herausschleudern obsz�ner und aggressiver W�rter.
Die Symptome treten mehrfach am Tag (zumeist in Serien) auf oder kehren zwischendurch immer wieder. Anzahl, H�ufigkeit, Art und Lokalisation der Tics befinden sich in einem wiederkehrenden Wechsel. W�hrend des Schlafs kommt es in fast allen F�llen zu einem Verschwinden der Beschwerden, verst�rkt treten die Tics in emotional belastenden Situationen (�rger, Anspannung, Stress etc.) auf.
Manche Patienten k�nnen die spontan auftretenden Tics in einem gewissen, aber beschr�nkten Ma�e kontrollieren. Dies f�hrt zu einer zeitlichen Verschiebung der heftigen sogenannten "Tic-Entladungen", jedoch kann der Tic nicht g�nzlich unterdr�ckt werden. Als Vergleich hierzu werden manchmal das Niesen oder der Schluckauf herangezogen. Wenn m�glich, ziehen sich Menschen mit Tourettesyndrom meist in einen Schonraum zur�ck, um ihren Symptomen freien Lauf zu lassen, wenn sie die Tics zuvor �ber l�ngere Zeit (z.B. in Schule, Arbeitsplatz oder �ffentlichkeit) unterdr�cken konnten.
Die breite Palette der m�glichen Tics ist �u�erst vielf�ltig und erschwert auf diese Weise die eindeutige Diagnose. Der Verlauf der Erkrankung ist in der Regel chronisch, Betroffene zeigen eine gew�hnliche Normalverteilung bez�glich ihrer Intelligenz. Die Lebenserwartung ist nicht eingeschr�nkt.
Komorbidit�ten
Ein gro�er Anteil der Tourette-Patienten zeigt h�ufig noch weitere St�rungen und Auff�lligkeiten. Zwangsverhalten, ADS und DHS, Asperger-Syndrom, Restless-Legs-Syndrom, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten, Schlafst�rungen und Depression|Depressivit�t werden beispielsweise geh�uft festgestellt.
Psychosoziale Folgen
Die Betroffenen leiden vor allem unter der Reaktion ihrer Umwelt auf ihre Symptome. Gerade weil Menschen mit Tourettesyndrom teilweise Einflussm�glichkeiten auf ihre Ticsymptomatik haben, werden die mit dem Tourettesyndrom verbundenen Auff�lligkeiten h�ufig als schlechte Angewohnheiten gedeutet.
Dies f�hrt dazu, dass Eltern von betroffenen Kindern oft Schuldgef�hle wegen ihrer vermeintlich verfehlten Erziehung entwickeln. Die Heranwachsenden selbst treffen in �ffentlichkeit und Schule auf viel Unverst�ndnis und Ablehnung, was wiederum zu einer Verst�rkung der Auff�lligkeiten f�hren kann. Auch Erwachsene mit Tourettesyndrom werden vielfach diskriminiert und erfahren oft Einschr�nkungen in ihrer beruflichen und privaten Entfaltung.
Au�enstehende f�hlen sich oft durch die unwillk�rlichen Tics pers�nlich provoziert. Dies ist besonders bei Koprolalie und Kopropraxie zu beobachten und kann zu einer Zuspitzung solcher Situationen f�hren.
Tourette-Patienten sind f�r gew�hnlich ebenso leistungsf�hig wie ihre Altersgenossen und k�nnen theoretisch in Freizeit und Beruf fast alle ihre W�nsche verwirklichen. Erschwert wird die praktische Umsetzung jedoch durch die Reaktionen von intoleranten und unaufgekl�rten Mitmenschen. Problematisch k�nnen weiterhin eine Neigung zu selbstverletzendem Verhalten und schwere vokale Tics bei der Berufsaus�bung in einem Bereich mit Publikumsverkehr sein.
Vorteile durch Tourette
Viele Menschen mit Tourettesyndrom besitzen eine gute Reaktionsf�higkeit. Durch geringere zentralnerv�se Hemmungsmechanismen lassen sich Bewegungen leichter ausl�sen. Die psychomotorische Genauigkeit ist bei vielen Patienten erh�ht. Oliver Sacks schreibt von "au�erordentlich raschen und genauen Reaktionen" sowie "�bersch�umenden, z�gellosen motorischen Impulsen", weswegen viele Touretter eine Neigung zu Sport und Musik h�tten.
Nach Dr. Kirsten M�ller-Vahl besitzen viele Touretter ein sehr rasches Auffassungsverm�gen und eine besondere Schlagfertigkeit.
Auch ein gutes mathematisches Verst�ndnis, sowie ein ausgepr�gtes Langzeit-, Personen- und Zahlenged�chtnis seien h�ufig zu beobachtende Fertigkeiten. Daneben sei nahezu allen Betroffenen eine besondere P�nktlichkeit eigen.
Ursachen
Die pathophysiologischen Ursachen sind noch nicht vollst�ndig bekannt. Untersuchungen deuten darauf hin, dass bei Tourette-Patienten Stoffwechselvorg�nge im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten (in den Basalganglien). Insbesondere betrifft dies die Neurotransmitter Dopamin und Serotonin. Diese dienen im Gehirn der Signal�bertragung (beispielsweise f�r Bewegungsabl�ufe) und sind teilweise �berm��ig aktiv.
Aktuellen Erkenntnissen zufolge wird neben einer nicht-genetischen Form, eine Genetik|genetische Form des Tourettesyndroms vermutet. Wissenschaftler haben Hinweise darauf erhalten, dass Mutationen im Gen SLITRK1 auf Chromosom 13q31.1 die normale Ausbildung von Nervenzellen behindern und diese Fehlbildung zum Tourettesyndrom f�hren k�nnte. Wenn ein erkrankter Elternteil die nicht notwendigerweise vorhandene Erbanlage f�r das Tourettesyndrom in sich tr�gt, wird vermutet, dass sein Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 5-10% von Tics (nicht zwangsl�ufig von dem Vollbild eines Tourettesyndroms) betroffen sein kann.
Auftreten
Es ist nicht bekannt, wie hoch die Zahl der Patienten mit Tourettesyndrom tats�chlich liegt. Einen gro�en Anteil an dieser Situation hat die Tatsache, dass das relativ seltene Syndrom bis heute oft fehldiagnostiziert wird.
Allgemein geht man davon aus, dass etwa 0,05% aller Menschen mit dem Tourettesyndrom leben. M�nner sind dabei etwa dreimal so h�ufig betroffen wie Frauen.
Diagnose
Die Diagnose des Tourettesyndroms wird rein aufgrund der beobachteten Symptome und des bisherigen Krankheitsverlaufs gestellt. Es existieren keine neurologischen oder psychologischen Verfahren, die eine Diagnose des Tourettesyndroms leisten k�nnen.
Mit Hilfe von Frageb�gen, Sch�tzskalen zur Beurteilung des Tic-Schweregrads und medizinischen Untersuchungen wie z.B. einem Elektroenzephalogramm wird eine Abgrenzung des Syndroms von anderen Erkrankungen versucht. Beispielsweise unterscheidet sich gem�ss ICD-10 die "multiple Ticst�rung" (F95.1) vom "Tourettesyndrom" (F95.2) dadurch, dass letzteres auch einen vokalen Tic beinhaltet. Weiterhin muss ausgeschlossen werden k�nnen, dass die Auff�lligkeiten eine k�rperliche Reaktion auf eine eingenommene Substanz darstellen oder einem anderen medizinischen Krankheitsfaktor entspringen.
Bedingungen f�r die Diagnose sind mindestens ein vokaler und mindestens zwei motorische Tics in der Anamnese; diese m�ssen aber nicht gleichzeitig aufgetreten sein. Beim Tourettesyndrom treten die Tics mehrmals t�glich zumeist anfallsartig entweder fast jeden Tag oder �ber ein Jahr lang wiederkehrend auf. Die Symptome m�ssen vor dem 21. Lebensjahr erstmals aufgetreten sein, die St�rke der Tics spielt keine Rolle in der Diagnosestellung.
Therapie
Zur Abkl�rung individuell abgestimmter eventueller Therapiema�nahmen ist der fachliche Rat von �rzten, Psychiatern oder Nerven�rzten einzuholen. P�dagogische und sonderp�dagogische Beratung k�nnen beispielsweise im Umgang mit den h�ufig auftretenden zus�tzlichen Konzentrations- und Aufmerksamkeitsst�rungen hilfreich sein. Eine eigentliche Heilung ist derzeit nicht m�glich.
Die beobachtbaren Symptome lassen sich haupts�chlich durch Behandlung mit Psychopharmaka aus der Gruppe der Neuroleptikum|Neuroleptika mindern, jedoch sind die meisten Personen mit Tourettesyndrom nicht so schwerwiegend beeintr�chtigt, dass eine Medikation oder sonstige fachliche Hilfen notwendig werden.
Wenn trotzdem eine medikament�se Intervention erforderlich wird, stehen verschiedene Pr�parate zur Verf�gung, deren individuell verschiedene notwendige Dosis durch behutsame Steigerung erst herausgefunden werden muss. In Deutschland wird gew�hnlich Tiaprid (Tiapridex) eingesetzt, daneben gelten Pimozide (Orap) und Haloperidol (Haldol) als erfolgversprechend. In den USA kommen zus�tzlich die nur wenig getesteten Pr�parate Fluphenazin (Dapotum, Lyogen) und Clonazepam (Rivotril) zum Einsatz.
Dagegen k�nnen Stimulantien wie Methylphenidat (Ritalin) oder Pemoline (Tradon) unter Umst�nden Tics verst�rken. Bei begleitenden Zwangsst�rungen k�nnen Fluvoxamin (Fevarin), Clomipramin (Anafranil), Paroxetin (Tagonis) oder auch Fluoxetin (Fluctine) hilfreich sein.
Alternativ gibt es Entspannungsverfahren und verschiedene verhaltenstherapeutische Ans�tze, die den Umgang mit Stresssituationen, die zu einer Verst�rkung der Tics f�hren, lehren k�nnen. Durch Selbstkontrolltrainings k�nnen teilweise sozial unangenehme Tics durch einen sozial eher akzeptierten Tic ersetzt werden.
Positive Ergebnisse bei der Sublimierung von Tics sind auch aus der Musiktherapie bekannt. Teilweise lassen sich nerv�se Impulse durch das Spielen eines Instrumentes ableiten. Besonders geeignet erscheinen hierzu schnelle Instrumente sowie Instrumente, bei denen der Spieler mit H�nden und F��en aktiv ist, z.B. das Drumset und die Orgel. Auch kommt die Neigung zur Palipraxie dem steten Wiederholen von Phrasen, Takten und Tonleitern beim �ben entgegen. Weiterhin gibt es die M�glichkeit, Kontrollzw�nge sinnvoll in den �bungsablauf einzubauen. Vokale Tics k�nnen in manchen F�llen dagegen in Stimmbildungs�bungen oder bl�serische Artikulations�bungen umgewandelt werden.
Dass THC Tics wirksam reduziert best�tigten die Ergebnisse einer sechw�chigen Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Hilfsorganisationen
1993 wurde nach US-amerikanischem Vorbild die Tourette-Gesellschaft Deutschland e.V. gegr�ndet. Sie hat sich zum Ziel gemacht, �ffentlichkeit und Fachwelt sowie Betroffene �ber Ursachen, Formen und Folgen der Krankheit aufzukl�ren und somit zu mehr Toleranz und sozialer Akzeptanz beizutragen.
Weiterhin m�chte die Organisation eine Aufkl�rung von Fachpersonal zur Verbesserung von Fr�herkennung und p�dagogischen Umgang mit den Symptomen sowie eine Verbesserung der Behandlungsmethoden leisten. Die Tourette-Gesellschaft kann jedoch nicht den medizinischen Rat kompetenter Fach�rzte ersetzen.
In deutschsprachigen L�ndern gibt es zumeist regional Selbsthilfegruppen oder Ansprechpartner.
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